„Vater hat nie geschossen!“
Nottuln. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht vorbei. Wie sehr dieser Krieg auch heute noch die Familien beschäftigt, wie sehr gerade auch die Nachkriegsgeneration – die in der 1950er und 1960er Jahren Geborenen – von den Kriegserzählungen in ihren Familien berührt sind, das wurde am Donnerstagabend in der Alten Amtmannei deutlich. Im Rahmen der Novembertage hatten das Komitee für Städtepartnerschaft Nottuln e.V. und die Friedensinitiative Nottuln e.V. den Autor Michel Hülskemper aus Gescher eingeladen, der aus seinem neuen Buch „Vater hat nie geschossen“ vorlas und Familiengeschichten aus dem Krieg und der Zeit danach lebendig werden ließ. Hülskemper berichtete von seinem Vater, der sich schon früh zur Luftwaffe der Wehrmacht meldete, von seinem Onkel Bernd, der erst Jahre nach 45 aus russischer Kriegsgefangenschaft als gebrochener Mann heimkehrte, von Onkel Hans, der nie wieder über den Krieg sprach und erst durch Fotos zu erkennen gab, dass er als Offizier der Wehrmacht an der Einkesselung und Belagerung von Leningrad (heute St. Petersburg) teilnahm, und von Onkel Addi, der als Ingenieur in Essen (in der „Kanonenstadt“) bei Krupp daran mitwirkte, riesige Geschütze zu konstruieren, mit der die Wehrmacht in Nord-Dänemark und Süd-Norwegen die Meerenge und den Zugang zur Ostsee „bestreichen“ konnte. Ihnen allen ist gemein: Sie sprachen, wenn überhaupt, nur kaum über den Krieg, erst recht nicht darüber, wie sie ihn erlebt und erlitten und was sie getan hatten. Michel Hülskemper mochte sich nicht mit dem Schweigen oder mit den gängigen Narrativen („Wir haben nicht geschossen!“) der Männer seiner Familie abfinden und begann zu recherchieren. So brachten ihn Fotos von Onkel Hans auf die Spur nach St. Petersburg. Die Briefe seines Onkels an dessen Vater klangen harmlos: „Uns geht es hier gut. Für uns wird alles getan. Wir liegen immer noch am selben Platz. Ich gedenke auch den nächsten Winter noch hier zuzubringen.“ Michel Hülskemper studierte intensiv die Rolle Leningrads im Zweiten Weltkrieg und erfuhr: Diese Millionenstadt wurde durch die Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs eingekesselt. 28 Monate lang. Schätzungen gehen von etwa 1,1 Millionen Menschen aus, die infolge der Blockade ihr Leben verloren. Die meisten dieser Opfer verhungerten. Die Einschließung der Stadt durch die deutschen Truppen mit dem Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, gilt als eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Kriegs gegen die Sowjetunion. Unregelmäßiges Beschießen der Stadt sollte die Bevölkerung mürbe machen. Sein Onkel Hans war bei der Artillerie. Hülskemper: „Wie es ihm wohl dabei ging. War er stolz, dabei zu sein? Oder war er geknickt, was es ihm peinlich? Egal? War er gerne Soldat? Fand er Hitler gut? Hatte er Glücksgefühle, wenn er das Abschießen der Kanonen befahl?“ Ausführlich schildert Hülskemper in einer weiteren Geschichte die Auseinandersetzung mit seinem Vater, der eine Junkers JU 87 flog. Als kleiner Junge hörte Hülskemper nur Positives und Harmloses, dass in Dänemark die Milch viel fetter sei und dass die Donau aus der Luft so schön blau schimmerte. Erst später erzählte der Vater offener von seinen Erlebnissen. Zusammen sahen sich beide in den 1970er Jahren Kriegsdokumentationen im Fernsehen an. Sein Vater berichtete von seinen Flugeinsätzen. In einem richtigen Luftgefecht verwickelt wurde er allerdings nie – sagte er. Wortlos sah er die Berichte der Wochenschau über die Luftkämpfe, zuweilen stöhnte er, seufzte. Oft entfuhr ihn an diesen Abenden dann nur ein Satz, leise vor sich hinsagend: „Dieser Scheißkrieg!“ Der Autor zog mit seinen Geschichten die rund 25 Zuhörerinnen und Zuhörer in seinen Bann, mit seiner ruhigen Art diese vorzutragen, sitzend, lesend, zwischendurch dann stehend ohne Mikrofon bereit, Zusammenhänge zu erklären. Das anschließende Gespräch zeigte deutlich, wie sehr er beim Publikum Saiten zum Schwingen gebracht hatte. Geschichten aus den eigenen Familien wurden erzählt. Parallelen wurden überdeutlich. Das Schweigen der Väter, die positiven Berichte vom Kriegseinsatz, aber auch das Leiden der Kriegsteilnehmer – bis zum Schluss. Hülskemper: „Ich meine, mein Vater – ohne, dass er dies so ausdrückte – schämte sich letztlich, an diesem Krieg teilgenommen zu haben. Schämte sich auch als Christ. Der Krieg war ein Verbrechen!“
Foto: Berührt und gebannt hörte das Publikum dem Autor Michel Hülskemper zu. Oftmals gingen die Gedanken dann in die eigene Familie, zu den eigenen Eltern und deren Kriegserfahrungen und -berichte.