„Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht durch uns!“ Anna Seghers.
Zum Überfall auf die Sowjetunion 22. Juni 1941
- Die Gemeinde Nottuln und die Friedensinitiative erinnern an den Krieg im Osten
- Besuch der sowjetischen Kriegsgräber in Nottuln-Schapdetten 18 Uhr
eine kleine Gedenkfeier, zu der alle eingeladen sind. - Herausgabe eines Readers mit Informationen über Zwangsarbeit, sowjetische Kriegsgräber, Erfahrungen in Russland und Belarus.
Nottuln. Am Dienstag, den 22.6. war es genau 80 Jahre her, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel und damit den Völkern dort unermessliches Leid brachte. Daran erinnerte die Friedensinitiative Nottuln (FI): „In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritten etwa drei Millionen schwer bewaffnete deutsche Männer in Wehrmachtsuniform die östliche Grenze des damaligen – bis nach Polen ausgedehnten – deutschen Reiches. Der Überfall mit dem Namen `Barbarossa´ auf die Sowjetunion begann.“ Im Zusammenhang mit diesem Jahrestag hat die FI einen fast 100seitigen Reader zusammengestellt. Dort wird beschrieben, dass es auch in Nottuln und Schapdetten sowjetische Kriegsgräber gibt. Intensiv bemühte sich die FI, das Schicksal der Toten zu recherchieren, kam aber dabei deutlich an Grenzen. Nur Allgemeines erfuhr die FI:
400.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden nach Deutschland verschleppt. Sie wurden in Lager verbracht und sich selbst überlassen. Tausende verhungerten und starben und wurden in Massengräbern verscharrt!
Zunächst waren die verschleppten Soldaten nicht für die Zwangsarbeit vorgesehen.
Doch im Oktober 1941, als durch Einberufung große Lücken an deutschen Arbeitskräften entstand, bedingt auch durch das Pflichtjahr der deutschen jungen Mädchen, ordnete Hitler den Arbeitseinsatz der sowjetischen Arbeitskräfte an. Noch schlechtere Arbeits- und Ernährungsbedingungen als die für Polen waren für die Russen der Standard. Auch Hunderttausende Zivilisten wurden in Osteuropa versklavt, verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Auch in Nottuln wurden Zwangsarbeiter beschäftigt – so z.B. in der Strumpffabrik Rhode. Zwei Frauen berichten in dem FI-Reader von ihrer gewaltsamen Entführung und ihrer Arbeit dann in der Nottulner Fabrik. Ein Baum, gepflanzt im Rhodepark, erinnert an dieses Kapitel auch Nottulner Geschichte – zusammen mit einem Info-Schild, auf dem jedoch – so bedauert die FI – der Hinweis darauf, dass konkret in den Fabrik Rhode auch Zwangsarbeiterinnen beschäftigt wurde, entfernt wurde.
Nach Kriegsende im Juli 1945 lebten im Kreis Coesfeld 10.000 sogenannte Ostarbeiter, die nun nicht mehr unter Kontrolle standen – viele davon im „Baumbergelager“: Russen und Polen („Displaced Persons“).
Am 4. Mai 1945 schrieb der Amtsbürgermeister von Nottuln an den Landrat in Münster:
„In Nottuln, auf dem Baumberg an der Jugendherberge, befindet sich ein Ausländerlager von ca. 1800 Russen und Polen.“ Einige von ihnen kamen ums Leben. Bevor das Lager geräumt wurde, musste der Amtsbürgermeister von Nottuln in einem Vertrag die Verpflichtung der Gemeinde anerkennen, in Zukunft für die Gräber der russischen Zwangsarbeiter zu sorgen. (Gemeindearchiv Nottuln C 94/ C110 verhandelt zu Nottuln 19.8.1945).
In der deutschen Öffentlichkeit – so schreibt die FI – erfährt dieser Krieg bis heute nicht die Wahrnehmung, die zum Beispiel der Holocaust erlebte. Was der ehemalige Bundespräsident Gauck vor ein paar Jahren feststellte, gelte noch heute: „Dieses Kapitel liegt bei uns bis heute in einem `Erinnerungsschatten´“. Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte gab 2011 eine Gesamtopferzahl dieses Krieges in der Sowjetunion an – über 26 Millionen Menschen:
darunter 11 Millionen sowjetische Soldaten, von denen acht Millionen durch Kampfhandlungen und drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft starben. Durch die Kriegshandlungen beider Seiten wurden etwa 1.700 Städte und etwa 70.000 Dörfer sowie insgesamt 1.000 Kirchen und 500 Synagogen und zusätzlich noch 32.000 Fabriken und 4.000 Museen zerstört. 15 Millionen Zivilisten wurde getötet. Robert Hülsbusch: „Man muss diesen Krieg, der von Anfang als Vernichtungs- und Ausrottungsfeldzug geführt wurde, als das deklarieren, was er war: ein rassistischer Völkermord, den die Deutschen zu verantworten haben.“ 1990 erlebten Mitglieder der FI auf einer Reise nach Moskau und in die russische Stadt Kursk, was dieser Krieg für die Menschen dort bedeutete und noch heute für Folgen hat. „Kursk – eine Stadt ca. 500 km südlich von Moskau. Dort fand die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges statt. Noch heute ist überall zu sehen und zu erahnen, welche Spuren und Narben dieser Krieg in der Stadt und in den Familien hinterlassen hat“, heißt es in einem Reisetagebuch, das Robert Hülsbusch damals schrieb und das auch in dem FI-Reader abgedruckt ist. Wenig später, 1992, besuchte die FI Belarus. 50 km von der Hauptstadt Minsk liegt die Gedenkstätte Chatyn. Dorthin führte Nikolai Grigorjewoj seine Gäste aus Nottuln und berichtete: „Chatyn war ein kleines belorussisches Bauerndorf. Windgeschützt lagen die 26 Bauernhäuser in einem Birken- und Kiefernwald. Am Morgen des 22. März 1943 dringen deutsche Einheiten in das Dorf ein. Sie holen die Menschen aus den Häusern und treiben sie in der Dorfscheune zusammen. Dann zünden sie die Scheune an. Bei lebendigem Leibe verbrennen 149 Menschen, darunter 75 Kinder. Wer nicht durch die Flammen umkommt oder durch den Rauch erstickt, wer zu fliehen versucht, stirbt in den Maschinengewehrsalven des Kommandos. Das ganze Dorf wird dem Erdboden gleichgemacht, die Häuser eingeäschert, die Brunnen vergiftet.“ An den einzig Überlebenden, den Schmied Jossif Kaminski, erinnert eine große Bronzegestalt. Auf den Armen trägt er seinen sterbenden Sohn. Noch Hunderte weitere Dörfer wurden ähnlich grausam wie Chatyn von Deutschen völlig vernichtet, erfuhren damals die FI-Mitglieder. Ganze Landkreise wurden in Belarus ausgerottet. 209 Städte und größere Ortschaften wurden zerstört, 9200 Dörfer in Schutt und Asche gelegt. 2.223.000 Bürger – jeder vierte Einwohner – fiel dem Terror zum Opfer.
Zusammen mit Bürgermeister Dr. Dietmar Thönnes besuchte die FI am Dienstag, den 22.6. um 18 Uhr die sowjetischen Kriegsgräber in Schapdetten, notierten die Namen der dort begrabenen Menschen und Blumen legen nieder. Zu diesem kleinen Gedenken waren alle eingeladen.
„Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen und Verurteilungen aus heutiger Sicht. Das wäre völlig unhistorisch“, erklärte Robert Hülsbusch den Hintergrund des Gedenkens. Hülsbusch: „Es geht um Verantwortung, Verantwortung für die Kriegsverbrechen und für den Völkermord, der von Deutschen verübt wurde. So hat das auch der damalige Bundespräsident Gauck bei einem Besuch in der Ukraine formuliert.“ Und diese Verantwortung verbiete es, die Eskalation der Spannungen zwischen Ost und West weiter zu betreiben. Die neue gefährliche Konfrontationspolitik müsse durch eine neue Entspannungspolitik abgelöst werden. Weitere Aufrüstung, auch die rhetorische Aufrüstung auf beiden Seiten, sei gefährlich. Die FI zitiert in ihrem Reader Erhard Eppler, der kurz vor seinem Tod schrieb: „Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 80 Jahren begann. Dann wird jede verletzende Arroganz verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen.“
www.fi-nottuln.de Man kann sich den Reader auch digital schicken lassen info@fi-nottuln.de
Mit freundlichem Gruß
Robert Hülsbusch
Foto: 1990 besuchten Mitglieder der FI die russische Stadt Kursk und wurden dort vom Erzbischof zu einer Privataudienz empfangen.
Foto: FI-Mitglieder Robert Hülsbusch, Jürgen Hilgers-Silberberg und Udo Hegemann im Gespräch mit einem russischen Weltkriegsveteranen („Ich reiche euch die Hand, auch wenn es mir auch nach all den Jahren sehr schwerfällt.“) Links Alexander Sudow, der Vorsitzende des Friedenskomitees in Kursk.
Vier von fünf sowjetische Kriegsgräber auf dem Friedhof in Nottuln. Begraben sind hier: Luba Matwienko, Danik Tuschko, Jekatjerina Rüchkowa und Wasil