Video-Vortrag – vom 21. März 2022
Wissenschaftliche Analysen und Perspektiven —– siehe https://www.johannes-varwick.de/
mit Prof. Dr. Johannes Varwick, Halle-Wittenberg
Ukraine: „Eine kluge Deeskalationspolitik ist notwendig. Die Alternative sind Tod und Zerstörung und am Ende ein großer Krieg mitten in Europa“
Wissenschaftliche Analysen und Perspektiven
mit Prof. Dr. Johannes Varwick, Halle-Wittenberg
Nottuln. „Manchmal ist es das Beste, sich zu ergeben. Manchmal ist es richtig, dass der Klügere nachgibt!“ Es gibt Situationen, die so zum Verzweifeln sind, dass auch Wissenschaft an ihre Grenzen kommt. Ein beeindruckender nachdenklich stimmender Vortrag fand am Montagabend auf Einladung der Friedensinitiative Nottuln (FI) per Videokonferenz statt. Als Referent eingeladen war der Politik-Wissenschaftler Prof. Dr. Johannes Varwick von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der in diesen Tagen viel gefragt ist, zum Ukraine-Krieg Analysen zu liefern und Perspektiven aufzuzeigen – so vor ein paar Tagen noch im WDR. „Den Krieg in der Ukraine vom Ende her denken!“ Darum bemüht sich der Politikwissenschaftler und kommt dabei zu Erkenntnissen, die nicht immer jeder hören und verstehen will. Der Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Die Eskalation wird weitergehen. Russland hat bisher nicht den Krieg mit voller Kraft geführt. Das bedeutet, so Prof. Varwick: Viele weitere Tote, noch mehr Zerstörung der Städte, Millionen Flüchtlinge. Und am Ende eine Ukraine, die in Schutt und Asche liegt, traumatisiert ist und dennoch Besatzung erleben muss. „Ist es da klug, bis zur letzten Patrone zu kämpfen, bis zum letzten Blutstropfen, wozu der Bürgermeister von Kiew und auch Präsident Salenskyj zurzeit aufruft?“ Der „heldenhafte Freiheitskampf“ werde nicht mit einem Sieg der Ukraine belohnt. Je mehr die Russen in die Enge gedrängt werden, um so mehr würde Putin die Eskalationsschraube anziehen. Der öffentliche Druck werde beim Anblick der verheerenden Zerstörungen größer werden, Druck, dass die Nato mehr eingreife, mehr Waffen liefere, evt. den Luftraum schließe. Nie sei die Gefahr eines großen Krieges in Europa, der auch mit Atomwaffen geführt werden könnte, größer gewesen nach dem Zweiten Weltkrieg. Varwick: „Jede Maßnahme, die der Westen ergreift, muss bis zu Ende gedacht werden.“ Schon der Militärtheoretiker Clausewitz riet 1832, alle möglichen Szenarien „durchzuspielen“ und erst im Anschluss daran zu einer langfristigen Strategie zu gelangen. Und schon Clausewitz wusste, dass jeder Krieg eine Vorgeschichte auf politischer Bühne hat und keinesfalls aus heiterem Himmel entsteht. Und so beschäftigte sich Wissenschaftler Varwick auch intensiv mit der Vorgeschichte zum Ukraine-Krieg, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass dieser Angriffskrieg ein Verbrechen ist. Aber auch der Westen habe in den letzten 30 Jahren nicht immer klug agiert. Varwick zum Schluss: „Vielleicht ist über ein mögliches Szenario nachzudenken, dass Berlin oder Warschau zum Sitz einer ukrainischen Exilregierung werden, die Ukraine entmilitarisiert wird und einen neutralen Status einnimmt. Was ist die Alternative: Wie blutig wird der andere Weg?“
Der vollständige Vortrag mit den Antworten auf viele Fragen der rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kann auf dem Youtube-Kanal der FI nachgesehen werden.
Varwick (54) ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Von dort aus wird er zu einer Videokonferenz, die die FI einrichtet, hinzugeschaltet. Der Wissenschaftler, der zwischendurch auch an der Universität der Bundeswehr, an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, lehrte, forscht zu den Themenbereichen internationale Organisationen (insbesondere Vereinte Nationen, NATO und EU), Europäisierung, internationale Sicherheit, deutsche und europäische Außenpolitik und internationale Ordnungspolitik und Probleme des Multilateralismus. Er machte sich auch einen Namen durch politikwissenschaftliche Lehrbücher, u. a. zu den Vereinten Nationen, zur NATO, zur Sicherheitspolitik und zu Grundfragen der Politikwissenschaft. In dieser hoch emotionalen Zeit – so die FI – ist es richtig, einen Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen, der nüchtern und sachlich analysiert und politische und militärische Strategien in ihren Konsequenzen aufdeckt. Und der auch perspektivische Lösungswege entwickelt. Die FI: „Die werden uns nicht immer gefallen. Die werden auch richtig wehtun. Aber wir sollten sie bedenken.“
Prof. Varwick vor ein paar Tagen in einem Interview: „Das Ziel muss sein, jedes weitere Blutvergießen in der Ukraine zu verhindern. Ein mögliches Szenario ist, dass Berlin oder Warschau zum Sitz einer ukrainischen Exilregierung werden, die Ukraine entmilitarisiert wird und eine russlandfreundliche Regierung bekommt. Das wird den eigentlichen Konflikt nicht lösen, könnte aber weiteres Leid und Tote verhindern. Am Ende wird Russland in jedem Fall eine neue Regierung in Kiew einsetzen. Die Frage ist nur: Wie blutig wird der Weg dahin sein?“ Und „Es wird Jahrzehnte dauern, bis das Vertrauen zwischen dem Westen und Russland wiederhergestellt ist. Das ist eine Generationenaufgabe und wir werden jetzt eine jahrzehntelange Eiszeit in der internationalen Politik erleben.“
Mit freundlichem Gruß
Robert Hülsbusch
Foto. Prof. Dr. Johannes Varwick wird verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten des Krieges in der Ukraine skizzieren und in ihren Konsequenzen deutlich machen.
Diplomatie statt Eskalation
Ein Appell von IPPNW und IALANA
Diplomatie statt Kriegsvorbereitung
Den aufgeheizten Konflikt um die Ukraine friedlich lösen!
In dem aktuell gefährlichen Konflikt zwischen der NATO und Russland fordern wir die Bundesregierung auf, aktiv dazu beizutragen, die Eskalation zu stoppen und eine friedliche Lösung zu suchen. Dabei sollen alle bestehenden wechselseitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen genutzt werden, um gegenseitige Sicherheit zu erreichen. Dauerhafte Sicherheit kann nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erreicht werden.
Der Link zu der Unterschriftenseite ist https://www.ippnw.de/index.php?id=1108
Obwohl die Truppenkonzentration bedrohlich wirkt, will Russland erklärtermaßen keinen Krieg, sondern einen Vertrag, der seine Sicherheit gewährleistet und hat dazu zwei detaillierte Entwürfe vorgelegt, die in der Öffentlichkeit allerdings weitgehend unbekannt sind. Einige der Vorschläge enthalten weitgehende Maximalforderungen und Verhandlungsmasse für ein neues europäisches Sicherheitskonzept. Andere Vorschläge in den Vertragsentwürfen für gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO sowie zwischen Russland und den USA sind einigungsfähig, z.B. zur Einrichtung von Telefon-Hotlines, für eine wechselseitige Unterrichtung über militärische Übungen und Manöver und die jeweiligen Militärdoktrinen (Art. 2, Vertragsentwurf NATO-Russland) oder der Vorschlag eines Verbotes einer Stationierung von landgestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen in Gebieten, die es ermöglichen, das Gebiet der anderen Vertragsparteien zu erreichen (Art. 5). Weitere zielen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe und den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa (Art. 7 des Vertrags mit den USA). Im Artikel 1 heißt es: „Die Vertragsparteien lassen sich in ihren Beziehungen von den Grundsätzen der Zusammenarbeit, der gleichen und unteilbaren Sicherheit leiten. Sie werden ihre Sicherheit (….) nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen Vertragsparteien stärken.“
Die Bundesregierung hat eine besondere rechtliche Verpflichtung gegenüber Russland: Am 9. November 1990 haben Kohl und Gorbatschow einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ geschlossen, der unverändert noch gilt. Art. 7 lautet: „Falls eine Situation entsteht, die nach Meinung einer Seite eine Bedrohung für den Frieden oder eine Verletzung des Friedens darstellt oder gefährliche internationale Verwicklungen hervorrufen kann, so werden beide Seiten unverzüglich miteinander Verbindung aufnehmen und bemüht sein, ihre Positionen abzustimmen und Einverständnis über Maßnahmen zu erzielen, die geeignet sind, die Lage zu verbessern oder zu bewältigen.“ Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Gespräche im Sinne dieser Verpflichtungen zu intensivieren.
Wichtige einzuhaltende völkerrechtliche Verpflichtungen für die Lösung des aktuellen Konflikts ergeben sich insbesondere aus den Grundsätzen der UN-Charta zur friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3) und zum Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4). Sie folgen auch aus der NATO-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997. Demnach unterliegt die dauerhafte Stationierung von substanziellen Kampftruppen in den neuen Nato-Ländern in der Mitte und im Osten Europas völkervertraglichen Beschränkungen. Die jetzt praktizierte lückenlose Rotation von NATO-Truppen an der NATO-Ostgrenze unterläuft Verpflichtungen des Abkommens. Forderungen der neuen NATO-Länder, die NATO solle sich darüber hinwegsetzen, muss widersprochen werden. Zu Recht erinnert Russland an die Formulierung im Schlussbericht des OSZE-Gipfels von 1999 in Istanbul, wonach jeder Teilnehmerstaat bei Änderungen seiner Sicherheitsstrukturen die Rechte aller anderen Staaten achten und seine Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen wird. Diese Zusage haben die NATO-Staaten beim OSZE-Gipfel im Dezember 2010 in Astana bekräftigt.
Wir appellieren an die Bundesregierung, die anstehenden Verhandlungen mit Respekt und unter Anerkennung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen und unter Beachtung der bestehenden Sicherheitssysteme zu führen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Russland seit 1990 zunehmend seine Sicherheit an der Westgrenze durch die NATO bedroht sieht. Der Verzicht auf die Osterweiterung der NATO ist zwar nicht völkerrechtlich bindend vereinbart worden, war aber wiederholt Gegenstand von Gesprächen und Verhandlungen mit Vertretern der russischen Regierung.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im folgenden Rahmen zu verhandeln:
- verschärfte Bemühungen, das Waffenstillstandsabkommen Minsk II durchzusetzen und die Parteien davon abzuhalten, die territorialen Streitigkeiten hinsichtlich der Krim und des Donbass militärisch zu beenden.
- Aktivierung aller noch bestehenden Gesprächskanäle zwischen Russland und NATO, um eine friedliche Lösung zu finden, die sowohl westliche als auch russische Sicherheitsbedenken anerkennt.
- Stopp aller Maßnahmen, die gegenwärtig eine militärische Auseinandersetzung befördern. Dazu gehören der Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine, die Beendigung aller Truppenkonzentrationen beidseits der ukrainischen Ostgrenze, die Einrichtung eines Sicherheitsbereichs beiderseits der ukrainischen Ostgrenze, in dem alle Truppenbewegungen ab Divisionsstärke (= 5.000) der Gegenseite vorab gemeldet werden sowie die Unterlassung von Manövern in diesem Sicherheitsbereich.
- rote Telefone insbesondere im Atomwaffenbereich; keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa sowie ein beidseitiger Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen.
- Verhandlungen im Rahmen der OSZE über den russischen Vertragsentwurf mit dem Ziel einer europäischen Sicherheitsstruktur und einer Neubestimmung des Verhältnisses Russland-NATO im Geist der früheren Abkommen über gegenseitige Sicherheit.
- Förderung aller Formen des kulturellen Austauschs und persönlicher Kontakte zwischen den Völkern von Russland und Deutschland, die in ihrer großen Mehrheit jeden Krieg in Europa ablehnen, sondern friedlich miteinander leben wollen.
Erstunterzeichner*innen:
Franz Alt, Journalist, Dr. Till Bastian, Publizist; Ralf Becker, Koordinator Initiative Sicherheit neu denken, Dr. med. Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende; Daniela Dahn, Schrifststellerin, Ulrich Frey, Mitglied im Vorstand der Martin-Niemöller-Stiftung e.V.; Dr. Heiner Fechner, Vorstände der IALANA, VDJ und EJDM; Prof. Dr. i. R. Albert Fuchs, Bernd Hahnfeld, IALANA, Gert Heidenreich, Schriftsteller und ehem. PEN-Vorsitzender West, Gisela Heidenreich, Buchautorin, Prof. Dr. i.R. Helwart Hierdeis, Erziehungswissenschaftler;Michael Karg, Propst i.R., Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung e.V., Prof. Mohssen Massarrat, wiss. Beirat der IPPNW; Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands und Parl. Staatssekretär a.D.; Prof. Dr. Norman Paech, Dr. med. Lars Pohlmeier, IPPNW-Vorsitzender, Pamela Rosenberg, ehem. Intendantin der Berliner Philharmoniker, Amela Skiljan, stellvertretende Vorsitzende IALANA,, Prof. Dr. i.R. Gert Sommer, Prof. für Klinische Psychologie und Konfliktforschung, Antje Vollmer, Bundestagsvizepräsidentin a.D., Peter Vonnahme, Richter am Bayer. Verwaltungsgerichtshof i.R., Mitglied von IALANA
Herausgeber*innen:
Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in soziale Verantwortung (IPPNW)
www.ippnw.de, Tel. 030 698074-0
Deutsche Sektion der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA)
www.ialana.de, Tel. 030 20654857
3. Februar 2022